Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung

Kassel - Kirchditmold und Vorderer Westen: Quartierskonzept der VW 1889 eG

Innovationen für familien- und altengerechte Stadtquartiere - Modellvorhaben

Eckdaten
Stadt193.000 EW
Stadtquartier5.000-10.000 EW
QuartierstypSiedlungsbau
KreistypKernstadt
LageInnenstadtrand
präg. Baualter1950er Jahre
Sozialdaten>60-Jährige: 40%
Zuwanderer: 13%
Arbeitslose: 14%
Träger/EigentümerGenossenschaft, Verein
FörderungESF (Europäischer Sozialfonds) bis Ende 2007


Das Projekt

Kontext

Die Genossenschaft Vereinigte Wohnstätten 1889 eG verfügt über etwa 4.000 Wohnungen in Kassel. Unter den derzeitigen Mietern ist eine deutliche Überalterung festzustellen (ca. 40% sind 60 Jahre und älter). Ziel des Quartierskonzepts war zunächst, den Genossenschaftsmitgliedern das Wohnen in dem gewohnten Umfeld möglichst lange zu ermöglichen. Im Projektverlauf wurde jedoch deutlich, dass es notwendig ist, diese Zielrichtung auf alle Generationen zugunsten eines "Lebenslaufwohnens" zu erweitern.

Das Modellvorhaben wird in zwei Stadtteilen durchgeführt, im "Vorderen Westen" und in "Kirchditmold". Der Stadtteil Vorderer Westen ist mit seiner zentrumsnahen Lage und seiner attraktiven Altbaustruktur ein beliebtes Wohnviertel. Während die Bevölkerungsstruktur hier gemischt ist, leben in Kirchditmold vor allem einkommensschwache Haushalte. Die ehemalige Arbeitersiedlung in Kirchditmold gehört jedoch nicht zu den problematischen Vierteln in Kassel. Seit mehreren Jahren werden bereits Aufwertungsmaßnahmen initiiert, um einer negativen Entwicklung entgegen zu wirken. Der Stadtteil zeichnet sich durch ein grünes und familienfreundliches Wohnumfeld aus. Durch das Angebot von neuen Wohnformen für unterschiedliche Zielgruppen soll das Quartier vor allem sozial aufgewertet werden.

Konzept

Das Quartierskonzept der 1889 wurde zuerst im Stadtteil Kirchditmold implementiert und ausgedehnt auf die Stadtteile Fasanenhof, Unterneustadt, Vorderer Westen. Dabei handelt es sich überwiegend um Stadtteile mit Wohnbebauung aus den 1950er/60er Jahren, eingesprenkelt sind Bauten aus der Vorkriegszeit. Das Quartierskonzept der Genossenschaft basiert auf vier Säulen:

  • Bauliche Maßnahmen
  • Sozialpädagogische (Alten-)beratung
  • Professionelle Steuerung der Vernetzung der Akteure im Stadtteil und
  • Umstrukturierung der genossenschaftlichen Verwaltung.

Bauliche Maßnahmen erfolgen in Form von individuellen Wohnungsanpassungen bis hin zur barrierefreien Modernisierung ganzer Gebäude. Darüber hinaus werden bestehende Quartiere auch durch familiengerechten Wohnraum ergänzt. Neubauvorhaben werden grundsätzlich barrierefrei ausgeführt. Parallel werden die sozialen Beziehungen im Quartier gestärkt. Vor Ort wird eine soziale Kontrolle im positiven Sinne eines "aufeinander Achtens" und der gegenseitigen Hilfe etabliert, da für viele Bevölkerungsgruppen klassische (z.B. kommunale) Hilfeangebote zu hohe Zugangsbarrieren haben bzw. nicht finanzierbar sind. Über einen Nachbarschaftshilfeverein, der mittlerweile in den vier Stadtteilen auch in Büros mit täglicher Personalpräsenz vertreten ist, werden Angebote für alle Altersgruppen (Senioren, Kinder/Eltern) umgesetzt.

Generationenübergreifende und zielgruppenspezifische Aspekte

Im Quartier Vorderer Westen sind ein generationenübergreifendes Wohnprojekt sowie Wohnformen für ältere Menschen und Menschen mit Behinderung geplant. Ziel ist es, dass die Bewohner des Quartiers durch das neue Wohnangebot auf der Konversionsfläche auch im Alter bei erhöhtem Hilfe- und Pflegebedarf, in einer eigenen Wohnung oder in einer ambulant betreuten Wohngruppe in der vertrauten Wohnumgebung selbstbestimmt wohnen bleiben können. Mit dem generationenübergreifenden Wohnprojekt werden alle Altersgruppen angesprochen.

Im Quartier in Kirchditmold werden Bestandsgebäude modernisiert, um den heutigen Bedürfnissen verschiedener Haushaltstypen gerecht zu werden. Durch ein breites Angebotsspektrum und Mitbestimmungsmöglichkeiten der zukünftigen Bewohner soll eine stabile und einkommensstärkere Nachfragegruppe, u.a. Familien, mobilisiert und damit die Sozialstruktur und das Image des Quartiers gestärkt werden.

Wohnangebote für alle Generationen

Neubau von Pflegewohngruppen und barrierefreien Wohnungen

Im Stadtteil Vorderer Westen wird ein Wohnhaus mit 15 barrierefreien Wohnungen für ältere und behinderte Menschen und zwei Wohnungen für ambulant betreute Pflegewohngruppen realisiert. Die AWO wird die betreuten Wohngruppen über einen langfristigen Mietvertrag mieten und mit den Bewohnern Untermietverträge abschließen. Die Versorgung soll sowohl über die AWO als auch über eine organisierte Nachbarschaftshilfe erfolgen. Die Bewohner können die Pflegeleistungen und die hauswirtschaftliche Unterstützung frei wählen. Die Leistungen werden als Wahlleistungen finanziert. Angestrebt wird eine Vermietung an Personen, deren Hilfebedarf so groß ist, dass eine 24-Stunden-Präsenz erforderlich ist, die über den Grundservice abgedeckt werden kann. Um auf der einen Seite überschaubare Gruppengrößen zu erhalten und auf der anderen Seite die Wirtschaftlichkeit der Betreuungsleistungen zu sichern, werden zwei Gruppen à acht Plätze räumlich so miteinander verbunden, dass sie ggf. auch gemeinsam betreut werden können (z.B. Synergieeffekte während der Nacht). Zur Zielgruppe gehören sowohl junge als auch ältere Menschen, die hilfebedürftig und nicht mehr in der Lage sind, selbständig in einer eigenen Wohnung zu leben. Die Pflegewohngruppe soll ihnen die Möglichkeit geben, in vertrauter Umgebung zu bleiben und die Unterbringung in ein Heim zu umgehen.

In den drei Obergeschossen entstehen 15 barrierefreie Wohnungen nach DIN 18025, Teil 1 und 2. Die zukünftigen Bewohner im Alter von 52 bis 80 Jahren konnten bei der Planung Einfluss auf ihre Wohnungsgröße und Grundrisstypen nehmen, so dass die Wohnungen auf die individuellen Anforderungen der Bewohner abgestimmt sind. Die Wohnungen wurden bevorzugt an langjährige Genossenschaftsmitglieder und Stadtteilbewohner vermietet. Aufgrund der großen Nachfrage wird überlegt, am gleichen Standort weitere barrierefreie Wohnungen für diese Zielgruppe zu realisieren.

Neubau eines gemeinschaftlichen Wohnprojektes mit Nachbarschaftstreff

In dem zweiten Gebäude mit 15 Wohnungen sollen ein generationenübergreifendes gemeinschaftliches Wohnprojekt sowie der Nachbarschaftstreff realisiert werden. Nach mehreren Informationsveranstaltungen hat sich die Initiativgruppe um weitere Interessenten vergrößert. Vereinbart wurde eine Einlage von 1.000 Euro pro Wohnung für die Planungskosten. Diese Einlage wird später mit dem Kauf- bzw. Mietpreis verrechnet. Zusammen mit dem Architekten planen die zukünftigen Bewohner ihre Wohnung. Aufgrund von zeitlichen Verzögerungen in der Planungs- und Entwicklungsphase ist die Fluktuation bei den Interessenten groß. Von den ursprünglich 20 Prioritätennennungen für die 15 Wohnungen im Februar 2008 lagen bei Stellung des Bauantrages im August 2008 nur noch neun konkrete Anfragen vor, sodass erneut nach Mitbewohnern im gemeinschaftlichen Wohnprojekt gesucht werden muss. Parallel erarbeiten die Architekten mit den zukünftigen Nutzern die Grundrisse für die einzelnen Wohnungen.

Zusätzliche Räume für die Gemeinschaft und das Quartier

Der Nachbarschaftstreff des Vereins "Hand in Hand e.V." wird im Erdgeschoss eine Fläche von 142 m² beziehen. Um die Räume entsprechend der Bedarfe der Nutzer umzusetzen, wurden die Planungen des Nachbarschaftstreffs unter Beteiligung der Ehrenamtlichen des bisherigen Treffs durchgeführt. Im Ergebnis wurde sich für einen großen Versammlungsraum von ca. 55 m² im direkten Anschluss zur Küche und zwei kleineren Gruppenräumen entschieden.

Die Baukosten liegen bei ca. 1.800 Euro/m² zzgl. 30.000 Euro für die Einrichtung (Küche, Regale, Tische, Stühle) und rd. 20.000 Euro für die Gestaltung der Außenanlage. Die Gemeinschaftsräume stehen in Zukunft sowohl den Bewohnern des Wohnprojektes als auch den Quartiersbewohnern zur Verfügung.

Umbau von Bestandswohnungen zu zeitgemäßen Familienwohnungen

Im Stadtteil Kirchditmold werden vorhandene Wohngebäude umgebaut und das Wohnumfeld aufgewertet. Mit dem neuen Wohnangebot wird eine Mischung unterschiedlicher Altersgruppen und Haushaltstypen angestrebt, insbesondere sollen Familien angesprochen werden. Für die Modernisierung der Häuser in der Bardelebenstraße wurden diese komplett leer gezogen. Durch die Zusammenlegung von kleinen Wohnungen mit unzeitgemäßen Grundrissen wird die Zahl der Wohnungen von 56 auf ca. 40 reduziert.

Seitens der Familien wurden vor allem Maisonettewohnungen nachgefragt. Vor diesem Hintergrund wurde der Wohnungstyp in einem Haus durchgängig realisiert, obwohl die Umbaukosten je Wohnung rd. 8.000 Euro höher liegen als bei der Zusammenlegung von zwei Wohnungen auf einer Ebene. Als Vorteil wird von den Familien u.a. der Schallschutz gegenüber Nachbarn (Untermietern) gesehen (z.B. Kinderzimmer oben). Darüber hinaus wurden den Erdgeschosswohnungen privat nutzbare Gärten zugeordnet.

Umbau von Bestandswohnungen für gemeinschaftliche Wohnprojekte

Die Genossenschaft wurde in der Planungsphase von bestehenden Gruppen angesprochen, die gemeinschaftlich leben möchten. Gemeinsam mit einer Gruppe von acht Frauen wurde ein Konzept für die Badelebenstrasse 12 entwickelt. Die Frauen im Alter von 30 bis Mitte 40 Jahren beziehen sechs Wohnungen mit Größen zwischen 60 und 130 m². Eine 60 m²-Wohnung im Erdgeschoss wird als Gemeinschaftsraum genutzt. Für die Anmietung dieser Wohnung hat die Gruppe einen Verein gegründet.

Vorverträge wurden mit der Gruppe nicht geschlossen, da durch die lange Zusammenarbeit eine entsprechende Vertrauensbasis geschaffen wurde. Außerdem wurden die Wohnungen so gestaltet, dass eine Vermietung an andere Bewohner ohne weiteres möglich wäre. In den Mietverträgen werden der Wohngruppe der Mietpreis (5,05 Euro/ m²) und das alleinige Belegungsrecht für die Wohnungen für zehn Jahre garantiert. Dafür trägt die Gruppe das Mietausfallrisiko. Auch in den anderen Wohnhäusern der Bardelebenstraße werden u.a. gemeinschaftliche Wohnprojekte realisiert.

Ein Verein stärkt das nachbarschaftliche Zusammenleben

Das nachbarschaftliche Zusammenleben spielt im Quartierskonzept eine wichtige Rolle. Viele Bewohner engagieren sich in dem Nachbarschaftsverein "Hand in Hand e.V.". Dieser wurde im Jahr 2001 gegründet und hat aktuell über 500 Mitglieder. Über den Verein werden einerseits die zugehende Wohnberatung umgesetzt und andererseits Angebote im Stadtteil realisiert (ausschließlich ehrenamtlich). So wurde auch eine Hilfekartei aufgebaut, in der sich mittlerweile über 100 Ehrenamtliche registriert haben. Der Verein beschäftigt zudem drei Sozialarbeiterinnen, die in aufsuchenden Beratungen v.a. mit Senioren aus den Quartieren Änderungsbedarfe in den Wohnungen und notwendige Hilfeleistungen besprechen. Der Verein vermittelt auch kostengünstige Alltagshilfen.

Um die Kommunikation in den Vierteln zu fördern, wird über den Verein ein Community-Portal aufgebaut. Auch Bewohnern, denen der Umgang mit neuen Technologien (Internet) bisher fremd war, soll die Möglichkeit gegeben werden, das Portal zu nutzen. Der Verein bietet dafür spezielle Kurse an, so dass der Zugang zu modernen Kommunikationsmitteln erleichtert wird. Das Community-Portal soll einen positiven Einfluss auf die Quartiersentwicklung ausüben, indem es das nachbarschaftliche Zusammenleben unterstützt und die Identitätsbildung stärkt.

Finanzierung

Die Finanzierung der Projekte erfolgt über Mittel der Genossenschaft, Mieterdarlehen, Mitgliedsbeiträge des Vereins, Spenden, öffentliche Wohnungsbauförderung, EU-Mittel und ExWoSt-Mittel, wobei der genossenschaftliche Anteil grundlegend ist.

Umbaumaßnahmen im Bestand, die für eine altengerechte Nachrüstung notwendig sind, werden in Teilen von den Pflegekassen übernommen und in diesen Fällen auch entsprechend abgerechnet. Für weitergehende Maßnahmen stellt die Genossenschaft eigene Mittel zur Verfügung. Alle Modernisierungen werden mit den Mietern abgesprochen und an der individuellen Zahlungsfähigkeit orientiert.

Der Verein Hand in Hand hat ein jährliches Budget von ca. 150.000 Euro. Bis Ende 2007 flossen rund 25.000 Euro Zuschüsse pro Jahr aus Mitteln des ESF (Europäischer Sozialfonds). Darüber hinaus zahlen die über 500 Mitglieder einen monatlichen Beitrag von mindestens zwei Euro. Der übrige finanzielle Bedarf wird derzeit noch durch die Genossenschaft finanziert.

Erfahrungen und Übertragbarkeit

In Kassel ist es gelungen im Rahmen von Quartierskonzepten sowohl neue Wohnangebote als auch bestehende Wohnangebote zielgruppengerecht (um-)zustrukturieren.

Besonders erfolgreich sind die Bestandsveränderungen in der Bardelebenstraße. Hier ist es der Genossenschaft gelungen durch ein offenes Ohr für Gruppen, die gemeinschaftlich wohnen möchten, die Häuser entsprechend ihrer Interessen umzustrukturieren. So lebt z.B. in einem Haus eine Gruppe von Frauen, in einem weiteren Haus wurden Wohnungen zu Familienwohnungen – Maisonettewohnungen – umgebaut, etc. Durch die "Nähe auf Distanz" können sich alle Gruppen individuell entfalten, führen aber gemeinsam zu einer heterogenen Nutzerstruktur im Quartier. Damit gelingt es in der Nachbarschaft, durch die verschiedenen gemeinschaftlichen Wohnprojekte insgesamt eine Aufwertung zu erreichen. Unterstützt wird das Miteinander durch den Verein Hand in Hand. Insbesondere ältere Menschen ziehen bewusst in Quartiere, in denen ein starkes Engagement des Vereins bekannt ist.

Im Sinne der Übertragbarkeit spielt das Engagement der Wohnungsgenossenschaft für die sozialen Belange eine große Rolle. Bei der Bewertung der Quartiersentwicklung rechnen sich die Investitionen in Personal und/oder z.B. den Aufbau von Strukturen (wie den Verein "Hand in Hand e.V.") für das Unternehmen. Das Quartier insgesamt genießt dadurch ein besseres Image und es können starke Fluktuation und/oder Leerstand vermieden werden.

Kontakt

Vereinigte Wohnstätten 1889 eG
Karin Stemmer
Geysostraße 24 A und 26
34119 Kassel
Tel.: +49 561 31009-390
kstemmer@vw1889.de

Alle Modellvorhaben des Projekts

Liste der Modellvorhaben

Zugehörige Projekte

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