Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung

Berlin Kreuzberg und Schöneberg: Migranten in die Genossenschaft

Modelle genossenschaftlichen Wohnens - Erschließen von Genossenschaftspotenzialen

Ausgangslage

Das Vorhaben Berlin Kreuzberg untersucht die Frage, inwieweit Migrantinnen und Migranten aus der Türkei für den genossenschaftlichen Erwerb kommunaler Wohnungen interessiert und gewonnen werden können.

"Türken sollen Genossen werden", titelte die Berliner Zeitung am 24.08.05 und benannte damit zutreffend, was mit dem Vorhaben beabsichtigt ist. Durch das Vorhaben wird die Erkenntnis der "Expertenkommission Wohnungsgenossenschaften" der Bundesregierung aufgegriffen, die für Wohnungsgenossenschaften erhebliche ungenutzte Potenziale aufzeigt und eine aktivere Rolle in zukünftig schrumpfenden Wohnungsmärkten und einer alternden Gesellschaft anmahnt.

Eine Gelegenheit zur Umsetzung bietet die bevorstehende Privatisierung landeseigener Grundstücke in Berlin-Kreuzberg mit 220 und in Schöneberg mit 10 gründerzeitlichen, teilsanierten Wohnungen. Der Verkauf soll vorrangig an die Mieter stattfinden. Große Teile der Mieterschaft sind von Hartz IV betroffen. Der Anteil türkischstämmiger Migrantenhaushalte liegt bei 60%. Hier ist ein Privatisierungskonzept gefragt, das langfristig ein stabiles, mittleres Mietniveau unter aktiver Beteiligung der Mieterschaft garantieren kann und die kulturellen Besonderheiten von Migranten berücksichtigt. Die Notwendigkeit, wohnungspolitisch tragfähige Konzepte für die wachsende Gruppe zugewanderter Haushalte schaffen zu müssen, hat die Wohnungswirtschaft längst erkannt. Eine Fachtagung der Wohnungswirtschaft im März 2005 in Bochum beschäftigte sich mit der Frage "Migranten: Problemgruppe oder Zielgruppe?" Es wurde deutlich, dass sich die Wohnungswirtschaft gegenüber den Herausforderungen der Zuwanderung positiv und im Sinne integrativer Konzepte positioniert und ihre interkulturellen Kompetenzen weiter entwickeln will.

Die Empfehlungen zur stadträumlichen Integrationspolitik des Projektes "Zuwanderer in der Stadt" des Bundesministeriums für Bildung und Forschung weisen darüber hinaus auf die Notwendigkeit hin, die Selbstorganisation von Zuwanderern sowie deren Teilhabe- und Mitwirkungsmöglichkeiten zu stärken. Ein genossenschaftlicher Erwerb landeseigener Grundstücke knüpft an diese Notwendigkeiten an und schafft neue, materielle Integrationsmöglichkeiten. Ein Erwerbskonzept, das sozialverträgliche Mieten sichert und Gestaltungsspielräume für die Mitglieder schafft, erfordert jedoch im Gegenzug Interesse, Engagement und Selbstorganisation der Nutzerinnen und Nutzer. Viele der seit mehr als 30 Jahren im Wohngebiet lebenden türkischstämmigen Haushalte sind dazu bereit. Im Rahmen des Vorhabens wird der genossenschaftliche Erwerb von fünf Häusern modellhaft untersucht, begleitet und unterstützt.

Umsetzung

Ein Finanzierungskonzept, das den Erwerb der Häuser, deren langfristige Bewirtschaftung und notwendige Instandsetzungsmaßnahmen einschließt, ist im Rahmen des Vorhabens erarbeitet worden. Die Finanzierungsverhandlungen mit der Bank gestalten sich jedoch schwierig und ziehen sich seit Ende 2005 hin. Ein zweites, von der Bank beauftragtes Gutachten bestätigte das vorliegende Finanzierungskonzept im Wesentlichen. Die ursprüngliche Vorstellung einer eigenständigen Genossenschaftsgründung wurde, u.a. aufgrund der restriktiven Darlehensvergabe bei Neugründungen, aufgegeben. Stattdessen ist der Anschluss an die seit 2002 bestehende, eigentumsorientierte Wohnungsbaugenossenschaft Am Ostseeplatz eG vorbereitet worden. So kann vom Know-how und der Erfahrung der bestehenden Genossenschaft profitiert werden.

Durch die Eigentumsorientierung dieser Genossenschaft können finanzielle Ressourcen einzelner Haushalte erschlossen und die Eigenkapitalbasis der Genossenschaft gestärkt werden. Satzungsgemäß besteht bei einer eigentumsorientierten Wohnungsbaugenossenschaft die Möglichkeit, durch Mehrheitsentscheidung der Mitglieder eine Veräußerung von Wohnungen an die Mitglieder festzulegen. Einige, insbesondere türkischstämmige Haushalte haben diesen Wunsch bereits dezidiert geäußert. Zur Umsetzung dieses Wunsches wird die Wohnungsbaugenossenschaft Am Ostseeplatz eG ein Unternehmenskonzept und vertragliche Regelungen entwickeln müssen, die die Vereinbarkeit der verschiedenen Eigentumsformen und Vertragsverhältnisse (Mieterverhältnisse, Mitglieder ohne Erwerbsabsichten, Mitglieder mit Erwerbsabsichten) ohne Schaden für die Gesamtheit der Mitglieder möglich machen. Diese genossenschaftliche Unternehmung ist bisher einmalig. "Die Eigentumsorientierung hat bisher keine praktische Relevanz", stellte die Expertenkommission Wohnungsgenossenschaften in ihrem Bericht fest. Die Wohnungsbaugenossenschaft Am Ostseeplatz eG ist mit dem Vorhaben angetreten, diese Relevanz unternehmerisch auszuloten und Neuland zu betreten.

Vorbehalte gegen Wohnungsgenossenschaften bestehen bei vielen türkischen Migranten. Ursache hierfür ist das negativ besetzte Image von Genossenschaften in der Türkei. Um die Unterschiede zwischen deutschen und türkischen Genossenschaften zu verdeutlichen, musste die Seriosität deutscher Wohnungsgenossenschaften nachgewiesen werden. Zweisprachige, anschauliche und verständliche Informationen über Strukturen und Prinzipien des genossenschaftlichen Wohnens sollten Klarheit über Sinn, Funktionsweise, Nutzen, Aufbau und Mitbestimmungsmöglichkeiten vermitteln. Die Besichtigung von Guten Beispielen sollte die möglichen Qualitäten genossenschaftlichen Wohnens sinnlich erfahrbar machen.

Untersucht wurden Vorstellungen und Vorbehalte türkisch-stämmiger Mieter gegenüber Wohnungsgenossenschaften und deren Motivationen, Mitglieder zu werden. Wie kann der Nutzen einer Mitgliedschaft vermittelt werden? Welche Anknüpfungspunkte zum Verständnis genossenschaftlichen Eigentums bestehen? Welche kulturellen Erfahrungen sind hierfür nutzbar? Welche geschlechtsspezifischen Unterschiede bestehen in den Auffassungen? Die Erkenntnisse wurden durch Tiefeninterviews und Kurzgespräche mit den Mietern gewonnen. Hierfür standen im Projektteam Kolleginnen und Kollegen türkischer Herkunft als Kulturmittler zur Verfügung. Es wurde eng mit der Aufnahme-Genossenschaft zusammengearbeitet, um die Kommunikation und den gegenseitigen Respekt zwischen den neuen Partnern zu erleichtern.

Zum 31.12.2005 konnte die Wohnungsgenossenschaft bereits 10% Mitglieder aus dem Kreuzberger Untersuchungsgebiet und aus Schöneberg aufnehmen. Das Schöneberger Haus ist inzwischen gekauft worden. Das Vorhaben erfährt eine breite Unterstützung von Seiten der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, der Abteilung für Stadtentwicklung des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg, der Integrations- und Migrationsbeauftragten des Bezirks, vom Türkischen Bund Berlin-Brandenburg und vom Berliner Mieterverein. Die einzige zu überwindende Hürde hat die Bank errichtet: Mittlerweile konnte auch diese Hürde genommen werden, denn seit Januar 2007 liegt eine Finanzierungszusage der GLS Bank für die Kreuzberger Häuser vor. Mit diesem Vorhaben wird ein wichtiger Beitrag zur materiellen Integration türkischstämmiger Haushalte geleistet, der wichtige Ansätze zur Stabilisierung von Zuwanderungsquartieren aufzeigt.

Projektträger des Modellvorhabens war WorkArt + Bestgen, Berlin.

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