Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung

Dokumenttyp: Fachbeitrag Datum 20.05.2022 Der Kohleausstieg in der Lausitz

Wo öffentliche Wahrnehmung und die Bedeutung für regionale Beschäftigung divergieren

Nicht erst seit dem Inkrafttreten des Kohleausstiegs- und Strukturstärkungsgesetzes im Sommer 2020 wird der Ausstieg aus der Kohleverstromung in Deutschland massenmedial kontrovers diskutiert. Anders als ihre diskursive Relevanz schwindet die Bedeutung der Braunkohle für die regionale Wirtschaft und Beschäftigung in der Lausitz seit den 2000er-Jahren kontinuierlich (vgl. Nagel/Zundel 2021: 10). Der vorliegende Fachbeitrag stellt dem öffentlichen Diskurs um den Kohleausstieg deshalb zunächst aktuelle Daten zur Beschäftigungssituation in den Revieren gegenüber.

Ausgangssituation – Relevanz der Braunkohle für die Beschäftigung

Angesichts des medialen Echos überschätzen Menschen in der Lausitz meist, wie viele Arbeitsplätze in der Braunkohle durch den Kohleausstieg bedroht sind.

Das Diagramm zeigt die Entwicklung der Anzahl der direkt im Braunkohlesektor Beschäftigten im Zeitraum von dem Jahr 1990 bis in das Jahr 2020. Anzahl direkt Beschäftigter im Braunkohlesektor in Deutschland Anzahl direkt Beschäftigter im Braunkohlesektor in Deutschland

Im Jahr 2020 waren in der Braunkohle bundesweit noch knapp 20.000 Menschen direkt beschäftigt, einschließlich der Beschäftigten in Braunkohlekraftwerken der allgemeinen Versorgung. Zwar hat sich ihre Beschäftigung zwischen 2000 und 2020 um etwa 8,5 Prozent reduziert, allerdings hat die „große Transformation“ bereits nach der Wende stattgefunden: Zwischen 1990 und 1995 sind allein 90.000 Arbeitsplätze in der Braunkohleindustrie weggefallen, zwischen 1995 und 2000 hat sich die Beschäftigtenzahl abermals beinahe halbiert – von 40.281 auf 21.287 Beschäftigte.

Direkt Beschäftigte im Braunkohlesektor in Deutschland differenziert nach Revieren
2000200520102015201820192020
Quelle: Statistik der Kohlenwirtschaft e.V.
Rheinisches Revier10.43011.10511.6069.4109.9869.7859.481
Lausitzer Revier7.0818.8818.0498.3168.3788.1167.822
Mitteldeutsches Revier2.9962.6422.5082.5652.3802.3342.190
Helmstedter Revier70366554145311110153

Einzig die Lausitz verzeichnete zwischen 2000 und 2020 einen geringfügigen Beschäftigungszuwachs. Er erreichte 2005 seinen Höhepunkt, liegt aber auch im Jahr 2020 noch 10,5 Prozentpunkte oberhalb des Beschäftigungsniveaus von 2000.

2019 war zwar der Anteil von Braunkohlebeschäftigten an allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Lausitzer Revier verglichen mit dem Rheinischen und dem Mitteldeutschen Revier am größten. Gemessen an allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der Lausitz ist der Umfang jedoch mit 1,93 Prozent klein und für das gesamte Revier kaum beschäftigungsrelevant. Zudem berechnen Hermann/Schumacher/Förster (2018: 18) auf Basis der Altersstruktur der Beschäftigten bis 2014, dass knapp zwei Drittel der im Braunkohlebergbau Beschäftigten bis zum Jahr 2030 in den (Vor-)Ruhestand gehen.

Eine mit einem Strukturbruch assoziierte Massenarbeitslosigkeit, wie sie für die 1990er-Jahre kennzeichnend war, ist angesichts dieser Datenlage also nicht zu erwarten (vgl. Nagel/Zundel 2021). Warum ist die diskursive Stimmung bezogen auf einen vorgezogenen Ausstiegstermin trotz dieser Ausgangsbasis vor allem in der Lausitz mit Emotionen aufgeladen? Und welche Gründe gibt es für ein solches Spannungsfeld?

Erklärungsansätze

Insbesondere zwei Erklärungsansätze lassen sich in Hinblick auf die Diskrepanz zwischen tatsächlicher Beschäftigung und öffentlicher Wahrnehmung identifizieren:

Die Deutung der Nachwende-Transformation als Zusammenbruch

Die deutsche Wiedervereinigung 1990 veränderte die ökonomische Basis und das gesellschaftliche Zusammenleben im Osten Deutschlands fundamental. Dieser Umbruch nach dem Ende der DDR verlief derart radikal, tiefgreifend und schnell, „dass ihn nicht wenige Menschen in ihrem Alltag wenigstens zeitweise als Zusammenbruch empfanden“ (BMI 2020: 11). Das erklärt die Vehemenz der aktuellen Strukturwandeldebatte, die für viele Menschen vor Ort eine sich wiederholende Transformationserfahrung impliziert. Auch die Abwicklung von systemischen Strukturen und Einrichtungen der DDR, mit denen sich ein gewisser Stolz und eine Identität der Ostdeutschen verband, nährten die Rahmung der Transformation als Zusammenbruch. Verstärkt wird dies durch Eindrücke von Beschäftigten im Lausitzer Braunkohlesektor, welche eine mangelnde Würdigung ihrer Arbeit sowie eine Ignoranz gegenüber den Perspektiven der Mitarbeitenden der Braunkohlewirtschaft wahrnehmen (vgl. Bose et al. 2020: 13).

Das handlungsleitende Narrativ von der Lausitz als Energieregion

Ein zweites Erklärungsmuster ist das vorherrschende Narrativ von der Lausitz als Energieregion, welche die historisch bedeutsame Rolle der Braunkohleförderung in der Region widerspiegelt (Nagel/Zundel 2021: 8). Historisch reicht der Braunkohleabbau in der Lausitz bis ins 19. Jahrhundert zurück. „Viele der in der Lausitz ansässigen Familien haben Angehörige, die seit Generationen im Bergbau arbeiten. Mit der Braunkohle ist eine hohe Identifikation verbunden“ (Bose et al. 2020: 7).

Alternative Diskurse zu diesem Narrativ sind in der Lausitz bis dato kaum ausgeprägt. Eine schnelle Abkehr von der narrativen Identität der Lausitz als Energieregion scheint für politisch verantwortliche Akteure ebenfalls kaum denkbar. Sie ist im Leitbild von einer modernen und nachhaltigen Energieregion im Lausitzprogramm 2038 festgeschrieben (vgl. Staatskanzlei Brandenburg 2020).

Fazit

Der aktuelle Strukturwandel in der Lausitz unterscheidet sich erheblich von der Nachwende-Transformation. So droht heute weder eine Massenarbeitslosigkeit noch ist der aktuelle Umbruch ein spezifisch ostdeutscher. Er ordnet sich in eine gesamtdeutsche Entwicklung ein, die mit neuen ökologischen und energetischen sowie digitalen, demokratischen und demografischen Herausforderungen konfrontiert ist. Überdies ist der Zeithorizont ein anderer. Selbst bei einem Kohleausstieg vor 2038 geht es um eine langfristige Wandlungsperspektive. Dabei unterstützen Strukturhilfen, die die betroffenen Länder und Braunkohleregionen vor dem Hintergrund endogener Wissensbestände und mittels partizipativer Verfahren teilweise selbst vergeben dürfen. Im Kontext der beginnenden Strukturhilfen hat dabei allein der Bund bis August 2021 im brandenburgischen (1.037) und sächsischen Teil des Lausitzer Reviers (237) knapp 1.300 Arbeitsplätze in seinen Behörden und Einrichtungen besetzt (vgl. Noack 2022).

Gammelin (2021) identifiziert zudem das Aufkommen einer selbstbewussten politischen Elite in den neuen Bundesländern. Zudem erinnert sie an die Kreativität und pragmatische Lösungsorientierung von Ostdeutschen. Der vormaligen Umbruchsituation wurde mit Wendigkeit, dem Besetzen von Nischen und kreativen Lösungen begegnet; dieses teilweise „verschüttete“ Wissen gilt es zu bergen und für die aktuelle Transformation zu nutzen. Hierbei spielen auch ältere Menschen mit ihrem Erfahrungswissen eine wichtige Rolle (vgl. Noack 2021).

Die gleichzeitige Befürchtung, als Region abgehängt zu werden, verdeutlicht, dass neben ökonomischen Faktoren insbesondere soziokulturelle Aspekte, identitätsstiftende Raumbilder und die Wahrnehmung sozialen Zusammenhalts in einer als Heimat empfundenen Region räumliche Entwicklungsperspektiven beeinflussen.

Dies könnte nicht nur ein Ausgangspunkt für die Überwindung von Spannungen zwischen Kohlebefürwortern und -gegnern sein. Es könnte vielmehr auch die Basis für neue Initiativen und die Stärkung endogener Potenziale auf Grundlage einer gemeinsamen raumbezogenen Identität sein.

Kontakt

  • Dr. Anika Noack
    Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR)
    Kompetenzzentrum Regionalentwicklung Cottbus
    Referat SR 1 „Transformation“
    Telefon: +49 355 121004 60
    E-Mail: anika.noack@bbr.bund.de

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