Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung

Forschungsprojekt: Innovationen für familien- und altengerechte Stadtquartiere

Sondergutachten "Barrierefreie Stadtquartiere"

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Das Sondergutachten "Barrierefreie Stadtquartiere" untersuchte räumliche und soziale Dimensionen von Barrierefreiheit sowie Ziele und Widersprüche beim Umgang mit und beim Abbau von Barrieren. Vor allen Dingen suchte es innovative und übertragbare Lösungsansätze für den Abbau von Barrieren in Stadtquartieren mit Gemeinschaftseinrichtungen, Freiräumen und dem Wohnumfeld. Dazu wurden zwanzig ausgewählte Fallbeispiele sowie in neun Modellvorhaben des Forschungsfelds "Innovationen für familien- und altengerechte Stadtquartiere" weitergehende Maßnahmen zum Barriereabbau ausgewertet.

Anlass

Angesichts der Alterung der Gesellschaft wächst in den Kommunen, aber auch bei größeren Wohnungsunternehmen der Handlungsdruck, Wohnquartiere so umzubauen, dass eine möglichst lange selbstständige Lebensführung in der vertrauten Wohnumgebung möglich ist. Eine altersgerecht oder barrierefrei ausgestattete Wohnung reicht dafür nicht aus. Das Wohnumfeld insgesamt muss barrierereduziert gestaltet sein und entsprechende Angebote der Versorgung, Dienstleistungen und Begegnungsmöglichkeiten vorhalten. Besondere Herausforderungen ergeben sich in randstädtischen oder suburbanen Ein- und Zweifamilienhausgebieten, die beispielsweise erhebliche Defizite in der Erreichbarkeit wichtiger Infrastrukturangebote aufweisen. Hier wohnen viele ältere Haushalte im Wohneigentum, die in der Phase der Familiengründung an den Stadtrand oder ins Umland der Städte gezogen sind. Auch in innerstädtischen Wohnquartieren, die altershomogen altern, wie z.B. Großwohnsiedlungen in den Neuen Bundesländern oder Zeilenbausiedlungen der 50er und 60er Jahre in den alten Bundesländern, wächst der Handlungsdruck.

Barrierefreiheit in einem umfassenden Verständnis von Zugänglichkeit, Erreichbarkeit und sozialer Teilhabe bedeutet, dass notwendige Angebote in fußläufiger Entfernung überhaupt vorhanden sind oder mit barrierefrei zugänglichen öffentlichen Verkehrsmitteln erreicht werden können. Dies betrifft beispielsweise die Nahversorgung mit Lebensmitteln und wichtigen Dienstleistungen (Post, Banken, Ärzte) ebenso wie ein Angebot an Begegnungs- und Aufenthaltsmöglichkeiten im öffentlichen Raum. Fehlen diese Angebote, nützt auch ein barrierefrei gestaltetes Wohnumfeld wenig. Eine selbstständige Lebensführung ist dann kaum möglich. Trotz dieser großen Bedeutung des Angebots an notwendiger Infrastruktur konzentrierte sich das Sondergutachten "Barrierefreie Stadtquartiere" auf die eigentlichen "Barrieren" im engeren und weiteren Sinne.

Zielsetzung

Aufgabe des Sondergutachtens "Barrierefreie Stadtquartiere" war es, systematisch und umfassend Barrieren in Stadtquartieren in den Blick zu nehmen. Aufbauend auf den Ergebnissen des oben genannten Forschungsfeldes sollten:

  • innovative und übertragbare Lösungsansätze für den Abbau von Barrieren in Stadtquartieren in Form von Fallstudien bundesweit recherchiert und dokumentiert werden,
  • konkrete Handlungsansätze für den Abbau von Barrieren als Nachbesserungen in ausgewählten IFAS-Modellvorhaben ermittelt werden,
  • Handlungsempfehlungen erarbeitet werden, mit denen die Chancen und Potenziale barrierefreier Stadtquartiere positiv und breit öffentlichkeitswirksam dokumentiert und kommuniziert werden können.

Arbeitsschritte

Die Ergebnisse basieren überwiegend auf der Auswertung von Praxisbeispielen. Eine Grundlage dafür sind die Erfahrungen in 9 Modellvorhaben des IFAS-Forschungsfeldes, die beim Abbau ausgewählter Barrieren in ihren Projekten begleitet wurden. Des Weiteren wurden bundesweit beispielhafte Strategien und Lösungsansätze recherchiert. 20 davon wurden systematisiert und auf ihre Übertragbarkeit hin ausgewertet. Die ausgesuchten Projekte weisen dabei durchaus Hindernisse und Stolpersteine auf – sind also nicht in jeder Hinsicht das beste Beispiel. Wichtig war vielmehr, dass auf Grundlage der Erfahrungen gute Lösungsansätze abgeleitet werden konnten. Die Auswertung orientierte sich an den im Folgenden dargestellten Forschungsleitfragen.

Forschungsleitfragen

  • Mit welchen Verfahren können Barrieren in Stadtquartieren systematisch identifiziert werden? Wo liegen Hürden und Stolpersteine?
  • Welche organisatorischen, planerischen und baulichen Anpassungsoptionen gibt es? Welche städtebaulichen, informatorischen und organisatorischen Strategien werden bereits mit Erfolg praktiziert?
  • Welche Kooperationsformen und Aufgabenverteilungen sind geeignet, die Vielfalt der quartierbezogenen Akteure zu einem integrierten und koordinierten Handeln zu bewegen?
  • Wann sind verbindliche Standards (z.B. über DIN-Normen, Bauordnungen, Festsetzungen in Bebauungsplänen) notwendig, wann erschweren "Überregulierungen" lokal angepasste Lösungen?
  • Welche Wechselbeziehungen bestehen zwischen verschiedenen Handlungsfeldern und Handlungsansätzen für die Überwindung von Barrieren? Welche Erfolgsfaktoren befördern sich gegenseitig, wo bestehen gegenseitige Widersprüche und Hemmnisse?

Ergebnisse

Das Gutachten systematisiert Barrieren nach baulich-räumlichen sowie mentalen, sozialräumlichen Barrieretypen. Baulich-räumliche Barrieretypen umfassen:

  • Räumliche/städtebauliche Strukturen und Nutzungen
  • Bauliche Ausführung von Gebäuden und Anlagen
  • Ausstattung und Gestaltung
  • Temporäre Barrieren

Mentale, sozialräumliche Barrieren in Stadtquartieren umfassen:

  • Soziale Nutzungen
  • Sicherheitsempfinden
  • Information und Kommunikation
  • Finanzielle Ressourcen
  • Zeitliche Festlegungen
  • Gesetzliche Vorschriften

Ergänzend werden Hinweise auf den Zusammenhang zwischen Wohngebietstypen und spezifischen Barrieretypen gegeben. Diese Typisierungen haben nicht den Charakter abschließender Listen, die es abzuarbeiten gilt, sondern dienen dazu, sich über den Barrierebegriff zu verständigen und den Handlungsbedarf beispielhaft aufzuzeigen.

Die Umsetzung barrierefreier Standards in Stadtquartieren scheitert weniger an Wissensdefiziten als vielmehr an Vermittlungsproblemen. Vorhandene DIN-Normen und zahlreiche Handbücher, Leitfäden und Checklisten des Bundes, der Länder und der Kommunen ergänzen und konkretisieren diese Standards auf verschiedenen Handlungsebenen. Auch wenn in den letzten Jahren besonders bei öffentlichen Gebäuden und dem öffentlichen Nahverkehr schon viele Fortschritte erzielt wurden, "barrierefreie Stadtquartiere" im Sinne der verfügbaren Normen und Standards sind als solche kaum zu finden:

  • Der Begriff der "Barrierefreiheit" wird in der Regel auf der Subjektebene mit Personen assoziiert, die mit erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen leben. Sie sind in der Wahrnehmung des "Normalbürgers" eher eine Minderheit. Auf der Objektebene wird "Barrierefreiheit" mit Aufzügen, Rampen und breiten Türen verbunden. Beide Assoziationen stehen für den beruflich ambitionierten Entscheider in Politik, Verwaltung, Planungsbüros nicht im Mittelpunkt der Alltagserfahrung.
  • Eine Öffnung des Begriffes der "Barrierefreiheit" im Sinne der Sicherung einer selbstständigen Lebensführung und Beweglichkeit für alle erhöht die Komplexität des Themas und erfordert eine Sensibilisierung dafür, was mit dem Abbau von Barrieren gemeint sein könnte.
  • Die Umsetzung barrierefreier Stadtquartiere ist eine Aufgabe verschiedener kommunaler Ressorts und vieler anderer externer Akteure. Abstimmungsprozesse innerhalb der Verwaltung und darüber hinaus mit Bauherren, Planern, Architekten und Fachfirmen sind mühsam und konfliktbeladen.
  • "Barrierefreiheit" ist auf Stadtquartiersebene mehr eine Vision als ein tatsächlich realisierbarer Zustand. Stadtquartiere sind gebaut und können nur nach und nach umgebaut werden. Dies ist ein Prozess, der sich nur nach dem Lebenszyklus und Modernisierungsbedarf von Gebäuden und baulichen Anlagen richten kann. Das notwendige Aushandeln, welche Barrieren vor Ort mit welcher Priorität abgebaut werden sollen, heißt, die Perspektiven der Bewohner systematisch abzufragen und einzubinden. "Barrierefreiheit" ist deshalb eher ein Prozess als ein Zustand.

Auf Grundlage der Auswertung und Diskussion der recherchierten Fallstudien und Modellvorhaben werden vier Strategiefelder definiert, mit denen ein Abbau von Barrieren auf der Ebene von Stadtquartieren systematisch vorangebracht werden kann:

Barrieren lokal identifizieren

Der in dem Gutachten verfolgte breit angelegte "Barrierebegriff" hat sich in der fachlichen Diskussion sowie in der Praxis der Modellvorhaben bewährt. Die Systematisierung von Barrieren nach baulich-räumlichen und sozialen Kriterien verändert das einseitig belegte "Rollstuhlimage" der Barrierefreiheit, es öffnet den Blick auf unterschiedliche Mechanismen möglicher "Ausgrenzung" von Bevölkerungsgruppen, vermittelt die Komplexität der Aufgabe und motiviert verschiedene lokale Akteursgruppen, sich am Abbau von Barrieren zu beteiligen. Dazu trägt insbesondere bei, dass der Abbau von Barrieren nicht einseitig als Mängelbeseitigung, sondern als Beitrag für Komfort im Alltag und für mehr Lebensqualität aus der Perspektive Vieler kommuniziert wird.

Für bedarfsgerechte Lösungen müssen Barrieren lokal identifiziert werden. Die örtlichen Verhältnisse (Topografie, Infrastruktur, Bauweisen, Traditionen, etc.) sind in Städten, Gemeinden und Regionen zu verschieden, um mit Einheitslösungen bedient werden zu können. Der Abbau von Barrieren in öffentlichen Räumen steht in einem Spannungsfeld, in dem unterschiedliche Nutzungsansprüche ausgehandelt werden. Maßnahmen dürfen nicht unangemessen erscheinen, sie brauchen immer die Akzeptanz in der Allgemeinheit. Da Barrieren in unterschiedlichen städtebaulichen Gebietstypen eine jeweils andere Ausprägung und Gewichtung haben, ist eine Differenzierung nach Gebietstypen sinnvoll.

Quartierskonzepte aufstellen

Um eine selbstständige und selbstbestimmte Lebensführung von mobilitätseingeschränkten Personen sicherzustellen, fehlen bislang noch systematische quartiers- oder stadtteilbezogene Konzepte. Die Herstellung von barrierefrei nutzbaren einzelnen Gebäuden (Wohngebäude, öffentliche Einrichtungen) als sog. "Insellösungen" ist ein wichtiger erster Schritt, dem jedoch die Betrachtung einer ganzen Nutzungskette "vom Bad bis zum Bahnhof" folgen muss. Die Erarbeitung von quartiers- oder stadtteilbezogenen Konzepten hat deshalb eine wichtige strategische Bedeutung:

  • Sie betrachtet den Bewegungsraum im Gesamtzusammenhang und berücksichtigt die barrierefreie Nutzungskette. Auch wenn nicht alle Barrieren flächendeckend abgebaut werden, können so in Abstimmung mit Betroffenen und anderen lokalen Akteuren Zielnetze barrierefreier Wege erarbeitet werden. Ein lückenloses Zielnetz hilft den Betroffenen mehr als eine in der Fläche lückenhafte Lösung.
  • Quartierskonzepte mit einer systematischen Defizitanalyse sowie einem Zeit- und Maßnahmen¬programm verschaffen den Betroffenen wie auch privaten Bauherren Planungssicherheit. Sie können, aufbauend auf den Standards der DIN-Normen, lokalspezifische Lösungen vorschlagen und verschiedene Akteure zu einem gemeinsamen Handeln motivieren.
  • Die Umsetzung der erarbeiteten Lösungsansätze kann dann "im Huckepack-Verfahren" und sukzessive im Zuge laufender Modernisierungsmaßnahmen und Umbauprozesse organisiert werden.

Abbau von Barrieren organisieren

Die Herstellung und Unterhaltung des öffentlichen Raumes liegt originär in der Zuständigkeit der öffentlichen Verwaltung. Sie nimmt im Rahmen von Baugenehmigungen und Planungsverfahren auf andere Akteure Einfluss. Sie hat deshalb weitreichenden Einfluss und vielfach eine informierende, koordinierende und motivierende Rolle. Darüber hinaus hat sie eine Vorbildfunktion und zeigt anderen Akteuren mit dem Neubau öffentlicher Gebäude und Anlagen barrierefreie bzw. –arme Lösungen auf.

Aufgrund der Breite der Handlungsfelder beim Abbau von Barrieren sind innerhalb einer Kommune verschiedene Fachressorts wie z.B. Stadtentwicklung, Bauleitplanung, Hochbau, Tiefbau, Wohnen, Verkehr und Freiraum beteiligt. In den Kommunen der Modellvorhaben hat es sich bewährt, projektbezogen Verantwortlichkeit in sog. "Ämterlotsen" zu organisieren, die den Auftrag erhalten, die jeweiligen Fachbeiträge einzelner Ressorts zu koordinieren bzw. zu steuern. Dauerhaft können Stabsstellen in der Verwaltungsspitze oder auch regelmäßige Arbeitsgruppen diese Aufgaben wahrnehmen. In allen Fällen ist die politische Selbstbindung zur Umsetzung der Barrierefreiheit z.B. in einem politischen Grundsatzbeschluss oder einem Auftrag der Verwaltungsspitze Voraussetzung.

Information und Kommunikation

Um das "Rollstuhlimage" des Begriffes "Barrierefreiheit" zu überwinden, sind innovative Formen der Beteiligung und Kommunikation zu entwickeln. Beispiele wie das Projekt des Kreisjugendrings in München ("Auf Herz und Rampen prüfen"), der mit Schülern "Barrierechecks im Stadtteil" durchführt, zeigen, dass es gelingt, Barrieren anders wahrzunehmen, für die Bedürfnisse unterschiedlicher Zielgruppen zu sensibilisieren und politisches sowie privates Engagement zu mobilisieren. Nachgefragt sind in der kommunalen Praxis Informationen zu Planungsverfahren (Zielnetzplanungen, Stadtteilkonzepte) und praktische Beispiele, die typische "Kompromisslösungen" jenseits der maximalen Anforderungen der DIN-Normen aufzeigen. In vielen Kommunen fehlen Orientierungshilfen, welche Barrieren mit welchen Instrumenten und Verfahren sowie mit welchen Finanzierungsinstrumenten (Städtebauförderprogramme, KfW-Programme) abzubauen sind. "Gute Beispiele" sind ein geeignetes Mittel, unterschiedliche Handlungsfelder, vielfältige Handlungsansätze und vorhandene Erfahrungen an Akteure unterschiedlicher Fachressorts zu kommunizieren. Angesichts der verschiedenen lokalen Ausgangsbedingungen sowie der Vielzahl von Maßnahmen, die den Abbau von Barrieren unterstützen, könnten diese Praxisbeispiele auf einer Internetplattform dokumentiert und so laufend aktualisiert werden.

Es kommt außerdem darauf an, allgemein den Nutzen von Barrierefreiheit zu kommunizieren, den Mehrwert für die "Anbieter" sowie den Komfortgewinn für viele Zielgruppen deutlich zu machen. Hilfreich sind Imagekampagnen mit Werbeplakaten oder auch Werbefilmen. Es geht aber auch darum, Erfolge im Barriereabbau zu vermitteln.

Mit den neuen Medien etablieren sich zunehmend innovative Informationssysteme, die die Orientierung in der Stadt oder im Stadtquartier erleichtern. Das Internet bietet hierzu inzwischen zahlreiche Möglichkeiten, sich über die barrierefreie Ausstattung von öffentlichen Gebäuden zu informieren, bevor man sich auf den Weg macht, wie z.B. eine Internetplattform in Karlsruhe oder Münster (www.komm-muenster.org). Darüber hinaus sind interaktive Melde- und Feedbacksysteme zu temporären Störungen wichtige Orientierungshilfen (www.maerker-brandenburg.de).

Im Mittelpunkt der Ergebnisse steht ein Kommunikationskonzept, das die breite Betroffenheit durch Barrieren im öffentlichen Raum mit einfachen Botschaften aus dem Munde ganz unterschiedlich Betroffener darstellt und dabei das breite Spektrum des Barrierethemas systematisch vermittelt.

Veröffentlichungen

Bauer, Uta; Böcker, Mone (2011): Barrierefreie Stadtquartiere – Ein Zukunftsthema. In: PLANERIN, Heft 02/2011, S. 47 – 49.

Veranstaltungen

Dokumentation Fachveranstaltung "Stadtquartiere ohne Barrieren - All(e) inklusive" am 28. Juni 2011 in Berlin, Download (PDF, 845 KB, Datei ist barrierefrei/ barrierearm)

Auftragnehmer

raum + prozess
kooperative planung und stadtentwicklung
mone böcker gabriele kotzke GbR
Hasselbrookstraße 15
22089 Hamburg
T: 040 39 80 37 91
F: 040 39 80 37 92
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