Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung

Bevölkerungsdynamik in Mittelstädten – interaktive Stadtportraits

Ergebnisse

Im Forschungsprojekt „Bevölkerungsdynamik in Mittelstädten – interaktive Stadtportraits!“ wurden ausgewählte Mittelstädte bereist und untersucht. Die Meinung der Bürgerinnen und Bürger zum Wachstum ihrer Städte konnte in drei Städten über digitale Workshops eingefangen werden.

Ende 2019 gab es 619 Mittelstädte in Deutschland. 197 von ihnen, also fast ein Drittel, verzeichneten zwischen 2016 und 2018 ein Wachstum der Bevölkerungszahl von über 1 Prozent. Für das Verständnis von Veränderungsprozessen im Zusammenhang mit Wachstum bieten neben der Entwicklung der Bevölkerungszahl die Entwicklung der Arbeitsplätze und des Wohnungsangebots geeignete Indikatoren. Als Wachstumsindikatoren wurden in der Datenauswertung deshalb auch die Zunahme der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am Arbeitsort sowie die Zunahme der Anzahl der Wohnungen einbezogen. So ergab sich eine Grundgesamtheit von 88 Mittelstädten, bei denen sich zwischen 2016 und 2018 mindestens zwei dieser Wachstumsindikatoren sehr dynamisch entwickelten.

Die wachsenden Mittelstädte sind vielfältig. Sie unterscheiden sich in ihrer Größe, ihrer Lage im Raum und den Funktionen, die sie übernehmen. Die Wirtschafts- und Unternehmensstruktur der Mittelstadt bestimmt, ob sie eine Ein- oder Auspendlerstadt ist. In der Nachbarschaft zu Großstädten gibt es daher enge Pendlerverflechtungen. Um auf die Funktionen einer Gemeinde schließen zu können, wurden in der Datenanalyse der Pendlersaldo und die Alterszusammensetzung, der Anteil Studierender und die räumliche Lage (innerhalb oder außerhalb einer Großstadtregion) einbezogen. Im Ergebnis wurden drei Gruppen dynamisch wachsender Mittelstädte gebildet, die sich durch spezifische Funktions- und Lagemerkmale auszeichnen und die anhand von Beispielstädten untersucht wurden:

  • Die Entlastungsstadt befindet sich in einer Großstadtregion und ist eine Auspendlerstadt (negativer Pendlersaldo). Hier wohnen überwiegend Menschen, die in der Großstadt arbeiten, dort aber keine passenden Wohnangebote finden, oder die in die Entlastungsstadt ziehen, weil sie zum Beispiel das ruhigere, naturnähere Leben schätzen. Unter den 88 dynamisch wachsenden Mittelstädten sind 40 Entlastungsstädte. Große Mittelstädte und Studierendenstädte (Anteil der Studierenden an der Gesamtbevölkerung bei mindestens 10 Prozent) sind unter den Entlastungsstädten sehr selten. Als Beispiele für Entlastungsstädte wurden die Gemeinde Wandlitz (23.127 Einwohner in 2019), nördlich von Berlin, mit neun Ortsteilen in einem von Seen geprägten Naherholungsgebiet und dem Schwerpunkt Wohnungsneubau, sowie Hattersheim am Main (27.674 Einwohner), mit drei im Südwesten an Frankfurt am Main grenzenden Ortsteilen, sich dynamisch entwickelnden Gewerbegebieten und verdichtetem Wohnungsneubau auf ehemaligen Fabrikarealen, untersucht.

  • Die Starke Nachbarin liegt ebenfalls in einer Großstadtregion, ist aber eine Einpendlerstadt (positiver Pendlersaldo). Sie bietet viele Arbeitsplätze, sodass eine dynamische Entwicklung der Grund für Zuzug sein kann. Möglicherweise schätzen die Zugezogenen aber auch ein gegenüber der Großstadt „entspannteres“ Arbeiten und Leben sowie ein passenderes Wohnungsangebot. Unter den 88 dynamisch wachsenden Mittelstädten sind 20 Starke Nachbarinnen, davon vier große Mittelstädte. Zudem gibt es in dieser Gruppe drei Studierendenstädte. Als Beispiele für Starke Nachbarinnen wurden folgende Städte untersucht: die große Mittelstadt Tübingen (91.506 Einwohner), westlich von Reutlingen am Neckar gelegen, eine traditionsreiche Studierendenstadt mit historischer Altstadt und einer aktiven Stadt- und Wohnungspolitik, sowie Gersthofen (22.451 Einwohner), mit Autobahnanschluss unmittelbar nördlich von Augsburg im bayerischen Regierungsbezirk Schwaben.

  • Die Ankerstadt liegt außerhalb einer Großstadtregion und ist fast immer eine Einpendlerstadt. Sie bietet Arbeitsplätze für die Menschen, die in der Umgebung leben, entwickelt sich aber auch als Wohnstandort dynamisch, weil sie Infrastruktur und Versorgung bereitstellt sowie ein „urbaneres“ Leben bietet als die (kleineren) Städte der Umgebung. Unter den 88 dynamisch wachsenden Mittelstädten sind 28 Ankerstädte. Im Vergleich zu den anderen Gruppen handelt es sich dabei häufig um große Mittelstädte und Studierendenstädte. Als Beispiele für Ankerstädte wurden untersucht: Papenburg (37.766 Einwohner), Deutschlands „südlichster Seehafen“ im Emsland zwischen Oldenburg und Groningen (Niederlande), Gießen (89.802 Einwohner), eine in Mittelhessen gelegene Studierendenstadt mit Universitätsklinikum, in der auf militärischen Konversionsflächen neue Wohngebiete entstanden sind, und Schwäbisch Hall (40.538 Einwohner) im Naturraum Schwäbisch-Fränkische Waldberge im nördlichen Baden-Württemberg mit einer attraktiven, historischen Altstadt.

Die Fallstudien verdeutlichten, dass die überregionale Anbindung und die Flächenverfügbarkeit zu den wichtigsten Rahmenbedingungen für das Bevölkerungswachstum für die Entwicklung von Gewerbe- und Wohnstandorten gehören. Starke mittelständische Unternehmen prägen viele Mittelstädte als Wirtschaftsstandorte. Der Wohnungsneubau wird in den großstadtnahen Mittelstädten von der Anspannung des Wohnungsmarkts in der Großstadt bestimmt. Zudem gelten historische Altstadtkerne als Attraktivitätsmerkmal. Eine verbindende Qualität der untersuchten wachsenden Mittelstädte ist die Naturnähe. Die naturräumlichen Qualitäten sind bei einigen Gemeinden mit großen Katasterflächen ein besonderer Lagevorteil. Die Qualität der Grün- und Freiflächen, die „kurzen Wege“ und die persönlichen Beziehungen in einem überschaubaren Umfeld wurden im Fallstudienkontext als mittelstadtspezifische Charakteristika benannt.

Die Steuerung des Wachstums zeichnet sich in vielen der untersuchten Städte durch Pragmatismus aus. Ein wichtiger Standortvorteil wurde darin gesehen, dass Stadtspitze und Verwaltung dienstleistungsorientiert arbeiten, um Unternehmen und Investoren gute Investitionsbedingungen zu bieten. Die „kurzen Wege“ in der Verwaltung sowie die Überschaubarkeit der Akteurslandschaft und der räumlichen Zusammenhänge wurden als Steuerungsvorteil der Mittelstädte identifiziert. Ein Steuerungsvorteil besteht darin, dass die Stadtgesellschaft in der Regel nicht so stark ausdifferenziert ist wie in Großstädten. Unterschiede konnten in Bezug auf die Schwerpunkte der Steuerungsaktivitäten festgestellt werden. Es wurden drei Steuerungsmuster identifiziert:

  • Typ 1: „Schwächen beheben!“: Städte, für die ihre Stärken in Bezug auf gute Lagebedingungen und übergeordnete Infrastruktur „Selbstläufer“ sind und die sich bei der Steuerung der Veränderungsprozesse darauf konzentrieren, gegen wahrgenommene Schwächen zu steuern, die sie als Verwaltung selbst beeinflussen können.

  • Typ 2: „Status-quo weiter ausbauen!“: Städte, deren Stärken breit aufgestellt sind und die diese halten und ausbauen wollen. Dabei werden keine besonderen Prioritäten in der Steuerung der Veränderungsprozesse gesetzt.

  • Typ 3: „Umfassend steuern!“: Städte, die Stärken und Schwächen haben und ihre Steuerungsanstrengungen punktuell sowohl auf die Abmilderung von Schwächen als auch für die Förderung von Stärken nutzen.

Von den Stadtspitzen und der Verwaltung wurde das Wachstum positiv bewertet und als Voraussetzung für die finanziellen Spielräume zur Bereitstellung attraktiver Infrastrukturen angesehen. Mehrere der Fallstudienstädte haben sich in der Vergangenheit intensiv um ein Wachstum bemüht. Verstärkt wurde dies teilweise dadurch, dass wichtige Funktionen, Unternehmen oder Steuereinnahmen wegfielen. Durch das Gegensteuern war es ihnen möglich, den städtischen Haushalt zu stabilisieren oder sogar zu konsolidieren. Aufgrund der Mehreinnahmen konnten Investitionen in kulturelle und soziale Infrastrukturen getätigt und öffentliche Räume aufgewertet werden. Wachstum wird auch weiterhin angestrebt, auch wenn für die Zukunft mit neuen Hemmnissen gerechnet wird.

Limitierende Faktoren sind zuvorderst die Verfügbarkeit von Fachkräften und Flächen. Für die Verwaltung ergeben sich bereits deutliche Personalengpässe in den Bauämtern und beim Betrieb der Kitas. Nachdem ein Großteil des Wachstums auf der Entwicklung von Brachen und Reserveflächen im Innenbereich und leicht zu mobilisierenden Außenbereich beruhte, werden zunehmende Flächenkonkurrenzen erwartet. Inwieweit daraus Konflikte entstehen, war in den Fallstädten bislang allenfalls in Ansätzen absehbar. Die Verknappung zusätzlich nutzbarer Flächen erfordert jedoch in jedem Fall die intensivere Nutzung vorhandener Flächen.

Ein gewisses Unbehagen gegenüber den Effekten des Wachstums und der Flächenverknappung äußert sich bei einem Teil der Zivilgesellschaft darin, dass die neuen, verdichteten Wohnquartiere gerade in den kleineren Mittelstädten als nicht ortstypisch angesehen werden und auf Vorbehalte stoßen. Auch gegen die Bebauung von Flächen im Außenbereich formiert sich punktuell Widerstand. Andererseits nimmt die Bevölkerung durchaus wahr, dass ein restriktiver Umgang mit Flächenausweisungen oder Verdichtung einer Entspannung durch Angebotserhöhung entgegensteht. Das Bewusstsein für die Tatsache, dass durch den Zuzug die Konkurrenz um Wohnbauflächen und Mietwohnungen zunimmt, ist somit vorhanden. Auch ein steigendes Verkehrsaufkommen durch den motorisierten Individual- und Lieferverkehr wird in einigen Städten kritisch gesehen. Hier werden integrierte Konzepte gefordert.

Aus der Verwaltungsperspektive soll in den betrachteten Mittelstädten in der Zukunft ein qualitatives Wachstum erreicht werden. Dazu gehört, Flächen intensiver zu nutzen und bei der Gewerbeansiedlung nicht nur auf die Steuereinnahmen, sondern vor allem auf die Zukunftsfähigkeit der Branchen, die Schaffung qualifizierter Arbeitsplätze sowie mögliche Synergien zu achten, um die Standortbildung durch Unternehmenscluster zu voranzutreiben. Dieser Steuerung der Gewerbeansiedlung nehmen sich gerade in kleineren Mittelstädten oft die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister selbst an. Dabei werden sie durch Engagierte in den Bereichen Wirtschaftsförderung und Stadtentwicklung unterstützt.

Als Teil einer qualitativen Wachstumsstrategie wird angestrebt, für die Querschnittsaufgaben „Klimaschutz“ und „Anpassung an die Folgen des Klimawandels“ Lösungen für Mobilität, den Neubau und die Ertüchtigung des Wohnungsbestands und der städtischen Infrastruktur – einschließlich der grünen und blauen Infrastruktur – zu finden und zu verwirklichen. Das Bewusstsein und der politische Wille sind in vielen Mittelstädten vorhanden, kohärente Gesamtplanungen und das Instrumentarium zur Umsetzung einer solchen Wachstums- und Umbaustrategie sind jedoch noch in der Entwicklung. Zukünftig müssen die Städte noch stärker die Interessen aller, die in Unternehmen und Gebäude investieren, Wohn- oder Gewerbebestände halten, Gebäude betreiben oder nutzen, zusammenbringen und mögliche Zielkonflikte moderieren. Die Herausforderungen an eine nachhaltige, integrierte Stadtentwicklung werden damit größer.

Übersichtskarte der 88 dynamisch wachsenden Mittelstädte und Lage der sieben Fallstädte Übersichtskarte der 88 dynamisch wachsenden Mittelstädte und Lage der sieben Fallstädte Abb. 2: Übersichtskarte der 88 dynamisch wachsenden Mittelstädte und Lage der sieben Fallstädte

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